Ein Gletschereinsturz mit dem Volumen und Schadensausmass wie bei jenem des Birchgletschers, der am Mittwoch das Walliser Dorf Blatten verschüttete, ist für die Schweizer Alpen ausserordentlich. Zwar brach beim Fels- und Eissturz am Piz Scerscen im April 2024 eine – mit gesch?tzten acht bis neun Millionen Kubikmetern – vergleichbare Menge an Eis und Schutt ab wie jetzt im L?tschental. Allerdings richtete der Abbruch im Engadin keine solchen Sch?den an wie in Blatten.
Die genauen Ursachen des Gletscherabbruchs vom Mittwoch sind zwar noch lange nicht restlos gekl?rt, betont Daniel Farinotti, Professor für Glaziologie an der ETH Zürich und der Forschungsanstalt WSL. Namentlich sei noch nicht abschliessend klar, ob ?ussere Faktoren oder vor allem Vorg?nge im Inneren des Gletschers den Abbruch letztlich ausl?sten. Eine Feldbegehung im Abbruchgebiet des L?tschentals am 1. Juni 2025 hat den Forschenden jedoch neue Einsichten vermittelt, die sie in ein aktualisiertes Faktenblatt aufgenommen haben – dieses fasst den aktuellen Kenntnisstand aus Sicht der Gletscherforschung zusammen.
Da Beh?rden und Forschende den Gletscher seit Jahren überwachen, gibt es jedoch deutliche Anzeichen dafür, dass mehrere Felsstürze und eine Gel?ndeverschiebung am Kleinen Nesthorn, dem Berg oberhalb des Gletschers, die Hauptausl?ser des Gletscherabbruchs sind. ?Wir wissen, dass es schon vor dem Abbruch am Mittwoch mehrere Felslawinen gab und sich deswegen Gesteinsmassen auf dem Gletscher ansammelten?, sagt Daniel Farinotti, der mit den ETH- und WSL-Forschenden Matthias Huss und Mylène Jacquemart das Faktenblatt verfasst hat.
?Mit diesen Daten und unseren Kenntnissen versuchen wir Forschende, die Beh?rden zu unterstützen, die unter schwierigsten Bedingungen unglaubliche Arbeit leisten, um den ?berblick über die Situation zu behalten und die Lage für die Menschen zu verbessern?, sagt Farinotti.
Eine Kombination führte zum Abbruch
Die aufgeh?uften Gesteinsmassen – die Beh?rden sch?tzen sie auf über 10 Mio. Tonnen – erh?hten den Druck und die auf das Gletschereis wirkenden Spannungen massiv. Dadurch wurde auch die Bildung von Schmelzwasser begünstigt, und zwar sowohl an der Basis als auch im Inneren des Gletschers, was zu einem steigenden Wasserdruck führte. Zusammen mit dem eindringenden Regen und zus?tzlicher Belastung durch instabil gewordene Bergpartien destabilisierte dies den Birchgletscher und beschleunigte den Eisfluss vor dem Abbruch. Den letzten Anstoss zum Abbruch gab letzten Endes das Abrutschen einer gr?sseren Partie der Flanke des Kleinen Nesthorns, wie auch schon die Beh?rden kommunizierten.
Die ungew?hnliche Talbewegung des Birchgletschers war den Forschenden und den Beh?rden schon vor L?ngerem aufgefallen. Entsprechend wurde die Beobachtung der Vorg?nge beim Kleinen Nesthorn verst?rkt. Da die Gletscher in der Schweiz insgesamt zurückgehen, war den ETH-Forschenden, welche die Gletscherentwicklung zusammen mit den Universit?ten Fribourg und Zürich im Gletschermessnetz GLAMOS dokumentieren, aufgefallen, dass im unteren Birchgletscher ab 2019 die Gletscherfront rund 50 Meter vorgestossen war.
Die Beobachtungsdaten zeigen zudem, dass die Eisdicke an der Gletscherzunge zwischen 2017 und 2023 um bis zu 15 Meter zunahm, w?hrend der obere Gletscherteil dünner wurde. Diese Zunahme h?ngt ebenfalls mit dem Gestein auf dem Gletscher zusammen, weil dies die Gletscherschmelze an der Oberfl?che reduzierte.
Vergleich mit anderen Eis- und Felsstürzen
Das Kleine Nesthorn und der Birchgletscher wurden seit den 1990er-Jahren, als zwei Schnee- und Eislawinen einen Teil der lokalen Infrastruktur beeintr?chtigte, genauer überwacht. Ein Teil der Entwicklung des Birchgletschers wird auch anhand von externe Seite Satellitenbildern ersichtlich.
In dem aktualisierten Faktenblatt halten die Forschenden fest, dass ein direkter Zusammenhang zwischen dem Auftauen des Permafrosts und dem Einsturz des Birchgletschers ohne weitere Untersuchungen zwar noch nicht abschliessend belegt sei. Es sei jedoch wahrscheinlich, dass steigende Temperaturen auch das Auftauen des Untergrunds, die Zunahme von Felsstürzen sowie – paradoxerweise – das ungew?hnliche Vorrücken des Gletschers begünstigt h?tten.
Der Gletscherabbruch oberhalb von Blatten hat gewisse Parallelen zum Felssturz am Pizzo Cengalo im Jahr 2017, bei dem rund drei Millionen Kubikmeter Felsmaterial auf einen kleinen Gletscher stürzten, diesen teilweise mitrissen und einen Murgang ausl?sten. Dieser verursachte schwere Sch?den an der Infrastruktur im Dorf Bondo. Damals kamen acht Personen ums Leben.
Im russischen Kaukasus kam es am 2. September 2002 zum noch viel gr?sseren Kolka-Karmadon-Gletscherkollaps, bei dem 100 Millionen Kubikmeter Eis bis zu 19 Kilometer talabw?rts stürzten, das Dorf Nizhniy Karmadon verschütteten und 125 Todesopfer forderte.
Im Wallis konnten die systematische ?berwachung und die vorsorgliche Evakuierung des betroffenen Dorfes Blatten eine solche Trag?die weitgehend vermeiden. ?Unsere Gedanken bleiben bei der Gemeinde Blatten und der unglaublichen Arbeit, die die lokalen Beh?rden und andere Akteure vor Ort leisten?, schliesst Daniel Farinotti.