«Die Frage, welchen Wert die Menschenrechte geniessen, ist zentral»
Gregor Spuhler leitete 18 Jahre lang das Archiv für Zeitgeschichte (AfZ), das bedeutende historische Quellen beherbergt. Im Interview erz?hlt der Historiker, was er von Nazivergleichen h?lt und warum die Schweiz gerade jetzt ein Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus braucht.?
War es nicht seltsam als Historiker an eine technisch-naturwissenschaftliche Hochschule zu kommen?
Gregor Spuhler: Nein, gar nicht. Das Archiv für Zeitgeschichte kannte ich schon – vor allem durch meine Arbeit am Bergier-Bericht – aber mir war nicht bewusst, was es bedeutet, Teil der renommierten ETH zu werden. Einer der vielen Vorteile ist, dass uns Menschen und Institutionen ihre privaten Dokumente leichter übergeben, weil sie der ETH generell vertrauen.
Das AfZ verfügt über national und international bedeutende Quellen. Gibt es einen Bestand, den Sie besonders spannend finden?
Wir verfügen über Protokolle aus Assessments von mehr als 3'000 Schweizer Führungskr?ften, die über einen Zeitraum von 40 Jahren erhoben wurden. Wegen des Pers?nlichkeitsschutzes sind diese noch nicht frei zug?nglich, aber mich interessiert gar nicht, wer wie abgeschnitten hat. Viel spannender finde ich, was Psychologie und Wirtschaft zu welcher Zeit unter ?guter Führung? verstanden haben - respektive auch, wie man glaubte, das testen zu k?nnen.
Das AfZ hat zwischen 600-800 Anfragen von Historiker:innen pro Jahr – ist das Interesse an Geschichte gewachsen?
Ein Archiv zu nutzen, wird nie ein Massenph?nomen werden. Dossiers mit zahllosen Dokumenten durchzuarbeiten, die man auf Anhieb kaum versteht, ist anstrengend. Aber ich bin immer wieder fasziniert, wenn ich sehe, was die Besch?ftigung mit den Quellen ausl?st. Wir bieten beispielsweise Workshops für Schulklassen zur Flüchtlingsgeschichte an. Die Schüler:innen lesen dabei Briefe eines Grenzoffiziers an seine Frau, in denen er schildert, was er 1943 an der Schweizer Grenze erlebte. Er musste den Befehl befolgen, alle Flüchtlinge zurückzuweisen, und er war sich zugleich bewusst, dass die Verfolgten in akuter Lebensgefahr schwebten. Zuerst schickte er einige zurück, dann hielt er es nicht mehr aus und erreichte, dass sie gerettet wurden. Was bedeutete das für ihn? Was für die Abgewiesenen? Die Schüler:innen verstehen, dass es ganz verschiedene Handlungsm?glichkeiten gab und diskutieren darüber.
Da dr?ngt sich die Frage auf: K?nnen wir aus der Geschichte lernen?
Ich unterscheide zwischen Geschichte und Vergangenheit. Die Vergangenheit k?nnen wir nie vollst?ndig erfassen. Geschichte ist eine Form der Darstellung, wie wir uns Vergangenheit aneignen. Wenn wir uns aber mit bestimmten Fragen der Vergangenheit vertieft besch?ftigen, k?nnen wir Mechanismen erkennen, was auch für die Gegenwart von Nutzen ist.
K?nnen Sie ein Beispiel nennen?
Wenn Regierungen oder Gesellschaften bestimmte Bev?lkerungsgruppen loswerden wollen, finden wir in der Vergangenheit einschl?gige Mechanismen: Sie inhaftieren, konzentrieren und deportieren die Menschen. Das Handlungsrepertoire ist – trotz sehr verschiedener historischer Kontexte – offenbar begrenzt. Wenn wir die Quellen analysieren, verstehen wir, wie solche Mechanismen funktionieren und was sie bewirken. Wir sehen, dass Massendeportationen in der Vergangenheit zumeist verheerende Folgen hatten.
Lassen sich diese, wie Sie sagen, Mechanismen der Vergangenheit mit jenen des Hier und Jetzt vergleichen? Momentan sind Nazivergleiche ja en vogue.
Natürlich müssen wir vergleichen! Die Frage ist bloss, wie gut die Vergleiche sind. Es gibt keine historisch identischen Situationen, da sich zahllose Parameter ver?ndern. Doch nur, wenn wir vergleichen, ist es überhaupt m?glich, Unterschiede, ?hnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zu erkennen.
Der Nazivergleich ist ein gutes Beispiel. Die Theorie beschreibt verschiedene Elemente faschistischer Herrschaft. Da lohnt es sich schon hinzuschauen, ob wir heute solche Elemente erkennen. Doch selbst wenn es ?hnlichkeiten gibt, bedeutet dies nicht, dass wir automatisch im Faschismus landen. Der Vergleich sensibilisiert uns aber, da erst gar nicht hinzukommen.
Zur Person
Gregor Spuhler wurde 1963 in Laufenburg (AG) geboren und studierte Geschichte und Germanistik in Basel und G?ttingen, Deutschland. Der Historiker war von 1997 bis 2001 einer der Projektleiter und Co-Autoren des sogenannten externe Seite Bergier-Berichts, der den Umfang und den Verbleib der Verm?genswerte untersuchte, die w?hrend des Zweiten Weltkriegs in die Schweiz gelangt waren. 2007 übernahm er die Leitung des Archivs für Zeitgeschichte (AfZ) an der ETH Zürich. Gregor Spuhler befasste sich vor allem mit der Schweizer Flüchtlingsgeschichte sowie der Oral History und verfasste dazu zahlreiche Artikel.
Ist das der Grund, dass Sie sich für ein Denkmal für die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus einsetzen?
Das nationalsozialistische Deutschland propagierte eine rassisch reine Volksgemeinschaft, grenzte Juden sowie zahlreiche anderen Minderheiten aus, vertrieb und deportierte sie und nutzte die Gewalteskalation im Krieg, um sie systematisch zu ermorden. Nach 1945 war die Antwort der Weltgemeinschaft auf diese Verbrechen klar: Man etablierte den Schutz des Individuums und den Minderheitenschutz, indem man die Menschrechte im Gesetz verankerte und das V?lkerrecht ausbaute.
Heute sehe ich, dass diese Werte auch in demokratischen Staaten zunehmend in Frage gestellt werden. Die Rechte von Minderheiten scheinen weniger wichtig zu sein. Das V?lkerrecht scheint seine Bedeutung in rasantem Tempo zu verlieren. Ich denke deshalb, dass die Schweiz gut daran tut, gerade jetzt bewusst ein Zeichen zu setzen und sich an die Opfer dieser dunklen Zeit zu erinnern. Die Frage, wie wir mit vulnerablen Minderheiten in unserer Gesellschaft umgehen und welchen Wert die Menschenrechte geniessen, ist zentral.
Letztes Jahr standen Sie im Fokus der ?ffentlichkeit, weil Sie einen Bericht dazu verfasst haben, ob es bei der schweizerischen Raiffeisenbewegung 1880–1950 antisemitische Aspekte gab. Wird die Arbeit von Historiker:innen zunehmend politisch?
Wissenschaft stand und steht immer in einem politischen Umfeld. Ich pl?diere aber dafür, die Unterschiede im Auge zu behalten: Wissenschaft stellt ergebnisoffene Fragen und sucht nach überprüfbaren Antworten. Politik will die Gegenwart eines Gemeinwesens auf der Basis von Machtverh?ltnissen gestalten.
Unsere Arbeit über die Raiffeisenbewegung ist ein gutes Beispiel dafür. Wir konnten den Antisemitismus des deutschen Gründers Friedrich Wilhelm Raiffeisen im historischen Kontext genauer bestimmen und zeigen, dass auch in der Raiffeisenbewegung in der Schweiz Antisemitismus weit verbreitet war. Gleichzeitig fanden wir in den Archiven keine Hinweise darauf, dass Raiffeisenkassen Juden als Mitglieder ausgeschlossen h?tten oder dass sie versuchten, jüdische Viehh?ndler oder Geldverleiher aus dem Markt zu verdr?ngen.
Und was bedeutet das nun für die Politik?
Ob heute der Raiffeisenplatz in St. Gallen umbenannt werden soll, ist eine politische Frage. Wir geben dazu keine Empfehlung ab, liefern aber die Grundlagen für eine historisch informierte politische Diskussion.
Sie gehen jetzt in Pension – wie geht es bei Ihnen weiter?
Ich werde wohl einiges tun, was in den letzten Jahren zu kurz kam. Oral History – insbesondere die Lebenserfahrungen von Migrantinnen und Migranten und das Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus – dürften mich noch etwas besch?ftigen.
Archiv für Zeitgeschichte
Das Archiv für Zeitgeschichte (AfZ) sammelt Nachl?sse und Zeitzeugnisse natürlicher Personen sowie Archive privater Organisationen, die von überregionaler Bedeutung sind und die Geschichte der Schweiz dokumentieren. Schwerpunkte der Sammlungst?tigkeit bilden Politik- und Wirtschaftsgeschichte, sowie jüdische Zeitgeschichte.